Muttertag: Warum sagt man in Mexiko „me vale madre“?

Die Wertschätzung der Mutter ist so eine Sache, vor allem in patriarchalen und machistischen Gesellschaften, auch wenn natürlich alle Söhne meinen, ihre Mutter über alles zu lieben, sogar und ganz besonders der inzwischen in den USA inhaftierte Drogenbaron Joaquín Guzmán, alias „El Chapo“. Wie viele andere mexikanische Söhne hatte „Der Kurze“ Ex-Kartellchef aus Sinaloa seiner Mutter bis zu ihrem Tod Ende 2023 jeden materiellen Wunsch erfüllt, Häuser, Autos, Ländereien, und ihr sicher auch zu jedem Muttertag artig Blumen und Süßigkeiten geschickt.

Man braucht kein Psychologe zu sein, um zu verstehen, warum er sie so abgöttisch „liebte“: Die gute Frau hatte ihrem Filius offensichtlich niemals irgendeine normale Grenze gesetzt, wie zum Beispiel dass man andere Menschen nicht einfach foltert, verstümmelt und wie Vieh am Ende erschießt, nur weil sie nicht das machen, was man will. Genau das, dass jemand alles macht, was sie wollen, verstehen so oder ähnlich verzogene Männer wie Guzmán aber auch noch als Erwachsene unter „bedingungsloser Liebe“, die sie dann natürlich auch von ihrer Ehefrau erwarten. Aber warum sagen ungehobelte Mexikaner über andere Menschen und deren Angelegenheiten, die ihnen „scheißegal“ sind, dass sie ihnen „Mutter wert sind“? Denn das bedeutet der Spruch „me vale madre“.

Krankhafte Idealisierung
Erziehung von Kindern
Ein Kind zu einem verantwortungsvollen Erwachsenen zu erziehen, ist gar nicht so einfach (Foto: Pixabay).

Meine beste Freundin in der Grundschule war die Tochter einer Peruanerin und eines Deutschen. Sie hatte auch noch einen kleinen Bruder, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, denn er wurde von seiner Mutter immer nur „Junior“ genannt. Juniorchef wäre passender gewesen, denn von kleinauf und befeuert von der totalen Unterwerfung der Mutter beherrschte und tyrannisierte er die ganze Familie. Für Junior wurde neu gekocht, wenn er am Essen herummäkelte. Junior hatte immer das neuste Spielzeug. Junior wurde zur Schule gebracht und und von dort abgeholt, während meine Freundin stets alleine gehen musste. Junior ersetzte den deutschen Vater, der in den Augen der Mutter nichts taugte, als ihr Partner. Als Jugendlicher durfte Junior die ganze Nacht wegbleiben. Junior hier, Junior da. „Juniorrrrrrrrrr?“ schallte es jedes Mal durch die Wohnung, wenn ich meine Freundin besuchte, denn im Leben der Peruanerin drehte sich alles komplett um ihren Mini-Narzissten.

Von der Mutter lernen Kinder, sowohl Mädchen als auch Jungen, das Rollenbild einer Frau und das Verhalten der Mutter ist für Kinder die Blaupause für ihr Konzept von „Liebe“. Die Abnabelung von der Mutter, nicht vom Vater, der erst ab dem Alter von sechs Jahren im Rahmen der Sozialisierung der Kinder eine größere Rolle spielt, ist essentiell für die Individualisierung des Kindes, auch hier von Mädchen und von Jungen. Verhätschelt, kontrolliert oder ignoriert die Mutter das Kind, kann dessen Abnabelung und Individualisierung nicht gelingen. Die Entwicklung wird behindert, was in der Regel zu einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung führt. Das Kind sucht später Beziehungen mit Partnern, die als Mutterersatz dienen und bei denen es die Abnabelung und Individualisierung nachholen kann, was die Paarbeziehung natürlich jedes Mal zerstört, weil der Partner dafür abgelehnt werden muss. Der Prozess ist bekannt als narzisstischer Kreislauf aus Idealisierung, Abwertung und Entsorgung („idealization – devaluation – discard“). Außerdem scheitert der Ersatz in Form des Partners, weil die Individualisierung nur durch die innere Trennung von der realen Mutter funktioniert. Doch die dafür nötige Selbstreflexion und Verbindung mit dem eigenen Innenleben fehlen dem Narzissten.

Auch sprachlich am Rockzipfel
Am Rockzipfel der Mutter
Frauen sollten das Ding umdrehen und ihre Rolle als Rockzipfel für erwachsene Männer an den Nagel hängen (Foto: Silke Grasreiner).

Wenn ein Erwachsener einen Partner braucht, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, dann liegt immer eine unvollendete Individualisierung und nicht erfolgte Abnabelung von der Mutter vor. Die Mutter ist die erste und wichtigste Bezugsperson von Mädchen und Jungen, die für die Bedürfnisbefriedigung des Kindes zuständig ist. Hält sie dabei nicht ein gesundes Gleichgewicht, dann werden bei den Kindern das Vorbild für das Verhalten einer Frau und das Konzept von „Liebe“ verzerrt. Im Falle einer übertriebenen Bemutterung hat bei einem Mann jede Partnerin in seinem Leben von vornherein einen schweren Stand. Erstens kann sie dann nicht den Platz als oberste Priorität in seinem Leben einnehmen, wo sie als Ehefrau oder Lebensgefährtin hingehört. Und zweitens muss sie scheitern, wenn ihr Verhalten dem Ideal bedingungsloser Liebe als totaler Unterwerfung unter die Bedürfnisse des Mannes nicht entspricht.

In der Paarbeziehung kommt noch erschwerend das Thema Sex hinzu. Wird die Frau als Ersatzmutter angesehen, ist der Mann verwirrt, denn mit einer Mutter, die er ja auch in der Partnerin sucht, um sich ersatzweise von ihr abzunabeln, ist das Thema tabu. Sein Frauenbild fällt daher in zwei widersprüchliche und sich ausschließende Funktionen als Hure oder Heilige auseinander, was sich in dem Schimpfwort „putamadre“, zu Deutsch „Huremutter“, widerspiegelt. Weder die emotionale Trennung von der realen Mutter, noch die dauerhafte Hinwendung zu einer anderen Frau kann gelingen, solange das Individuum in diesem dualen Frauenbild verhaftet bleibt. Im Positiven, aber vor allem auch im Negativen kann die Mutter im Extremfall wie ein übermächtiges Damoklesschwert über dem Leben hängen und nirgendwo ist das so deutlich wie in den verbalen Ausdrücken in Lateinamerika. Wenn Sie jemanden beleidigen, heißt das „mentar la madre“, zu Deutsch „die Mutter beschwören“. Wenn sie jemanden zum Teufel schicken, sagen Sie „chinga tu madre“, „f… deine Mutter“, und wenn Sie jemanden direkt angreifen, ihm schaden zufügen oder irgendeine Katastrophe passiert, ist das „dar en la madre“, „in die Mutter geben“.

Böse Mutter
Die Frau in Lateinamerika
Die Frau in Lateinamerika: vergöttert und verteufelt (Foto: Jesus Eca/Unsplash, Grafik: filmlifeaway/Pixabay).

Die Mutter soll auch für alles Negative verantwortlich und natürlich auch daran Schuld sein. Vor allem aber muss sie für die allgemeine Gleichgültigkeit der Mexikaner gegenüber anderen Menschen und deren Problemen herhalten mit dem Ausdruck „me vale madre“, was wörtlich „ist mir Mutter wert“ heißt und bedeutet „ist mir scheißegal“. Hier ist offensichtlich nicht nur eine Abnabelung von der Mutter nicht gelungen, sondern das Kind steckt mit seinem gesamten Gefühlsleben noch komplett in deren Bauch fest und weigert sich, für irgendetwas selbst die Verantwortung zu übernehmen. Das mit der Rückkehr in den Bauch ist ganz wörtlich zu verstehen, denn nichts anderes tun die Herren der Schöpfung ja beim Geschlechtsakt und je größer ihr Verlangen, desto größer ist ihr Bedürfnis, für ihre eigenen Gefühle und ihre eigenen Entscheidungen keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie holen sich die Energie dafür nämlich in der Gebärmutter der Frau. Es sei denn, der Mann ist beim Geschlechtsakt ausschließlich auf das Wohlergehen der Frau ausgerichtet, nicht auf das eigene Vergnügen. In der Praxis dürfte das immer noch eine Minderheit sein.

So gesehen ist die Abwertung des Mütterlichen durch Schimpfwörter nur eine narzisstische Manipulation, um die Unterwerfung der Frau zu erreichen und damit schneller und einfacher an deren Energie zu kommen. Nach dem Motto, „zeig mir, dass du doch etwas wert bist, indem du mir sexuell zur Verfügung stehst (den Haushalt machst, alles Emotionale in der Beziehung ausgleichst usw.), dann höre ich vielleicht auf, dich abzuwerten“, was natürlich nur ein leeres Versprechen ist. Die Fortschritte bei der Gleichberechtigung der Frau haben dazu beigetragen, dass auch diese Manipulation inzwischen gleichberechtigt funktioniert und es genau so viele Frauen wie Männer gibt, die sie anwenden. Tatsächlich suchen beide Geschlechter im jeweils anderen ihr ganzes Leben lang nur eine Bedürfnisbefriedigung, manipulieren sich gegenseitig und treten in diesem Sinne in Konkurrenz, solange sie sich nicht von ihrer Mutter und ihrer falschen Vorstellung abnabeln, dass bedingungslose Liebe bedeutet, dass der andere sich ihrem Willen nach der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse unterwerfen müsse. Der Narzissmus-Experte Sam Vaknin nennt dieses Phänomen in einer Paarbeziehung „Dual Mothership“, also „doppelte Mutterschaft“. Das kann eine Weile gut gehen, aber fällt spätestens dann auseinander, wenn einer den anderen dafür bestraft, dass er die eigenen Bedürfnisse nicht mehr erfüllt, also eine „böse Mutter“ ist.

Stichwort Selbstwert
Jeder Mensch ist gleich viel wert
Gleichwertigkeit, Gleichgewicht: Jeder Mensch ist gleich viel wert und gleich wichtig für diese Erde (Foto: Alexa/Pixabay).

Hinter dieser Manipulation steckt eine Projektion der eigenen Innenwelt, der sich derjenige nicht bewusst ist und der gegenüber er selbst gleichgültig ist: nämlich die Angst vor Verlassenwerden und der Mangel an Sicherheit darüber, dass jeder Mensch aus sich selbst heraus autark lebensfähig ist und alle seine Bedürfnisse stillen kann. Das heißt nicht, dass er alles alleine machen muss, sondern dass er in der Lage ist, in der Zusammenarbeit mit anderen Menschen seinen Beitrag zu leisten, um im Gegenzug das zu bekommen, was er selbst braucht. Jeder Mensch enthält alle Möglichkeiten in sich, um aus sich selbst heraus alles zu erschaffen, was er braucht. Jeder hat irgendein Talent dass er den anderen zur Verfügung stellen kann, er muss es nur richtig kanalisieren, das heißt in der derzeitigen Gesellschaft, die noch mit Geld funktioniert, monetarisieren. Sogar ein Mensch ohne Arme und ohne Beine kann arbeiten und einen Mehrwert bieten. Dabei geht es letztlich nur um Selbstwert, das sichere Gefühl, dass man genau so viel wert ist wie alle anderen Menschen, nicht mehr und nicht weniger.

Da die Menschheit diese grundlegende Wahrheit bisher weder individuell noch kollektiv begriffen hat, schätzen einige andere Menschen so gering, dass diese ihnen vollkommen egal sind, und wir haben auf der Erde Systeme, bei denen der Wert von Menschen und Dingen ebenso extrem hin und her schwankt. Wenn man genau hinsieht, wird man aber feststellen, dass Beziehungen immer im Gleichgewicht sind, dass beide Seiten sich in ihrem Ungleichgewicht nur spiegeln und dem anderen aufzeigen, was er noch zu lernen hat, und in diesem Sinne für beide Seiten lehrreich sind, auch die Beziehungen, wo einer materiell scheinbar nur gewinnt und der andere nur verliert. Auf geistiger Ebene wird das ausgeglichen. Der große Fortschritt der Menschheit ist an neuen Initiativen erkennbar wie dem bedingungslosen Grundeinkommen und dem Verschenken von geerbtem Vermögen durch Einzelne, die schon gemerkt haben, dass nichts glücklich macht, was man sich nicht selbst auf der Basis eines gesunden Selbstwerts erarbeitet hat. Und so hält wahre bedingungslose Liebe auch in Paarbeziehungen langsam Einzug als freiwilliger und gleichwertiger Austausch von zwei Individuen, die für sich selbst sicher wissen, dass sie auch allein lebensfähig und glücklich sind, aber freiwillig entscheiden, ihr Leben und ihr Glück jederzeit mit dem anderen zu teilen, ohne ihn als Mutterersatz und Projektionsfläche anzusehen.

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