Zwischen Dichtung aus Hollywood und Wahrheit aus dem Regenwald
Auf den ersten Blick ist Hilaria Euan Hau eine blutrünstige Mörderin, ganz so wie in Mel Gibsons Film „Apocalypto“ über ihr Volk, die Maya. Ohne Reue zerteilt sie die Leiche vor ihr auf dem Tisch mit einem scharfen Messer.

Doch es ist nur ein Hühnchen, kein Menschenopfer, und Hilaria hat Gott vorher um Erlaubnis gebeten, wie es die Maya traditionell tun. Und Gott hat „uts‘ “ gesagt: „gut“ oder „schön“. Hühner sind das einzige, was Hilaria jemals bewusst getötet hat. Quietschvergnügt läuft das Geflügel hinter und oft auch in ihrer kleinen strohbedachten Holzhütte herum. Hilaria nährt es mit viel Aufmerksamkeit und zieht es groß. Denn die Maya wissen um das Gesetz des Lebens: Geben und Nehmen müssen im Gleichgewicht sein. Wer ein Huhn tötet, muss dafür auch eins in die Welt setzen. Und die innere Haltung, mit der beides geschehen sollte, ist Freude und Dankbarkeit. Hilaria ist freudig und dankbar, sie hat ja auch ein ruhiges Gewissen: Gott war einverstanden, das Huhn war einverstanden, alles gesetzmäßig also.
Extrem unterschiedliche Lebensweise
Nun lebt sie in einem Land, das nicht gerade bekannt ist für seinen Respekt vor Gesetzen. Bei Mexiko denkt der nachrichteninformierte, moderne Mensch vor allem an Drogenhandel, Korruption und Gewaltverbrechen. Mit Recht. Quintana Roo mit den Touristenmetropolen Cancún und Playa del Carmen an der Karibikküste, wo Hilaria wohnt, ist der jüngste mexikanische Bundesstaat und gilt als Umschlagplatz für Drogen aus Kolumbien auf dem Weg in die USA. Politiker, Unternehmer und Polizisten sind Mitwisser und nicht selten aktiv Beteiligte, auch in anderen illegalen Geschäften wie Immobilienbetrug und Kinderpornographie. Schnelles Geld und Lust an der Macht stehen ganz oben auf der Agenda. Die einheimische Maya-Bevölkerung hat keine Lobby, obwohl ihre Vorfahren die imposanten Pyramiden-Städte hinterlassen haben, die heute Besucher aus aller Welt anlocken und das Land so reich machen. Doch die meisten Maya leben in bitterer Armut.

Hilaria ist eine bescheidene, aber weltoffene Frau. Zehn Jahre lang hat sie an der Küste südlich von Tulum gewohnt und auf einer Kokosplantage gearbeitet. Touristen auf der Durchreise kauften bei ihr Essen und erzählten ihr vom Leben in anderen Ländern. Hilaria liebt es, andere Sprachen zu hören. Sie selbst spricht Maya und einfaches Spanisch, aber lesen und schreiben kann sie kaum. Nachdem sie als Kind zwei Monate lang die Schule besucht hatte, entschied ihr Vater, dass sie doch lieber arbeiten sollte, um Geld für die Familie zu verdienen. Danach erhielt sie nie wieder Unterricht. Ihre Sehnsucht Neues kennenzulernen blieb, während sich ihr reales Leben auf 100 Quadratkilometern zwischen ihrer Heimatstadt Chemax in Yukatan, Valladolid und Tulum bewegte. Jetzt ist sie 50, ihre zehn Kinder sind alle schon aus dem Haus und haben selbst Kinder. Ihr Mann verkauft Brennholz und Getränke auf seinem „triciclo“, dem für Mexiko typischen Dreirad mit vorgebauter Ladefläche.
Schlechte Erfahrungen mit dem System
Vor fünf Jahren war Hilaria einmal nach Mexiko-Stadt eingeladen worden, zusammen mit anderen Maya-Frauen die wie sie ehrenamtlich in einem staatlichen Sozialprogramm mitarbeiteten. Die Gruppe wurde in einem Bus zum Flughafen gefahren, wo alle Teilnehmerinnen vor dem Abflug auf einmal ohne Vorankündigung von einem Arzt untersucht wurden. Dieser stellte bei allen Frauen eine medizinische Kontraindikation fest, die es ihnen angeblich nicht erlaubte zu fliegen. Bei der einen war es Übergewicht, bei der anderen Bluthochdruck, bei Hilaria war es eine Herzschwäche, mit der sie jederzeit einen Herzschlag erleiden könnte, wie ihr der Doktor versicherte. Dem Regierungsangestellten, der die Gruppe zum Flughafen begleitet hatte, dämmerte bei dieser Prozedur, dass die Reise offenbar von vornherein niemals wirklich stattfinden sollte. Er entschuldigte sich bei den Frauen, bevor sie wieder nach Hause gefahren wurden. Wo das Geld für die Reise geblieben war, wurde nie untersucht.

Heute wohnt Hilaria in Macario Gómez, 20 Kilometer von der Küste entfernt im Landesinneren. Auch hier kommen manchmal Ausländer vorbei. Ein Reiseveranstalter führt von Zeit zu Zeit eine Gruppe Touristen auf Hilarias Grundstück herum, damit sie die traditionelle Lebensweise der Maya kennenlernen. Hilaria bestickt dann für sie „hipiles“, die weißen Baumwollkleider der Maya-Frauen, mit farbenfrohen Kragen aus Blumenmustern, webt eine Hängematte, bäckt Tortillas aus Maisteig, den sie kunstvoll mit ihren Händen formt, und lässt sich dabei fotografieren. Vom Reiseveranstalter, der sich die Touren teuer bezahlen lässt, hat sie noch nie etwas bekommen, nur leere Versprechungen. Selten mal geben ihr die Touristen ein paar Pesos oder kaufen ihr etwas ab. „Was soll ich mich darüber ärgern“, sagt sie, „ich verliere bloß meine gute Laune und außerdem sorgt Gott schon für Gerechtigkeit.“ Mit dieser Einstellung lassen sich die Maya seit Jahrhunderten ohne nennenswerten Protest ihre Ländereien und Habseligkeiten wegnehmen. Aber Hilaria verschenkt weiter großzügig an alle Besucher warme Mahlzeiten mit schwarzen Bohnen, Orangen aus ihrem Garten und ihre Herzenswärme.
Hollywood kennt die Maya gar nicht

Von Mel Gibsons „Apocalypto“ oder Roland Emmerichs „2012“ weiß sie nur vom Hörensagen. Ins Kino geht Hilaria nicht, außerdem ist das nächste 80 Kilometer weit entfernt. Für so weite Reisen hat sie kein Geld. Das Dorf des Filmhelden aus „Apocalypto“ mit den gut gelaunten Bewohnern, die untereinander ihre Späße machen, aber nie bösartig, das hätte ihr sicher gefallen. Wie die Maya früher wohl gelebt haben? „Ich weiß nicht, wohl genauso wie heute“, sagt sie und wringt weiter ihre Wäsche aus.
„Dass sie in wilden Horden herumliefen und andere niedermetzelten, das glaube ich nicht“, fügt sie hinzu. So aber hat Mel Gibson, der Alkoholiker, in seinem Film viele Maya der Welt präsentiert. Auch von finsteren Prophezeiungen über ein „Ende der Welt“ im Jahr 2012 hält sie nichts. Man fragt sich, wie sie es schafft, mitten im Schlamm ohne Ariel und Waschmaschine mit Kochwaschgang immer blütenweiße Kleider zu tragen. Hilaria lächelt, nur ganz kurz. Dann wendet sie sich wieder ihrer Wäsche zu. „Ko’ox p’o“: „Lass uns waschen“. Einer muss diese Welt ja sauber halten. Das machen Maya wie Hilaria seit Jahrhunderten mit ihren reinen Gedanken. Aber gegen Drogenhändler, korrupte Politiker, Gewaltverbrecher, Immobilienspekulanten, Mel Gibson und Roland Emmerich haben sie heutzutage ihre liebe Mühe.