Urteile im Mordfall Villavicencio in Ecuador lassen Fragen offen
Am 12. Juli 2024 verurteilte ein Gericht in Ecuador fünf Personen, die für den aufsehenerregenden Mord an dem Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio im August 2023 verantwortlich sind. Aber es gibt immer noch keine Klarheit darüber, wer den Mord angeordnet hat und warum.
Fünf Verurteilungen
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der mutmaßliche Anführer der kriminellen Drogenbande „Los Lobos“, Carlos Edwin Angulo, alias „El Invisible“, für den Mord an Villavicencio verantwortlich ist und verurteilte ihn zu 34 Jahren Haft. Er habe die Tat von seiner Gefängniszelle aus organisiert. Angulos Telefon-Chats und Anrufe mit den anderen Verurteilten überführten ihn als denjenigen, der den direkten Befehl gab. Laura Dayanara Castillo wurde für schuldig befunden, das Komplott finanziert und koordiniert zu haben und erhielt als Mittäterin die gleiche Haftstrafe. Drei weitere Komplizen müssen für zwölf Jahre hinter Gitter.“In Bezug auf die Verurteilung der Täter […] glauben wir, dass dies das Mindeste ist, was die Justiz in Ecuador für einen Mann wie Fernando tun kann, der sein Leben für das Land gegeben hat“, schrieben Villavicencios Töchter Tamia und Amanda in einer auf X, ehemals Twitter, veröffentlichten Erklärung.
Der Präsidentschaftskandidat Villavicencio, ein früherer Investigativjournalist, wurde bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Hauptstadt Quito am 9. August 2023 am helllichten Tag erschossen. Die Polizei tötete den Schützen, einen 18-jährigen Kolumbianer aus einem Armenviertel in der südwestlichen Stadt Cali, noch am Tatort. Die Behörden fanden später Nachrichten auf dessen Handy, die zur Verhaftung von 13 weiteren Personen führten, die offenbar mit der Ermordung Villavicencios zu tun hatten. Im Oktober 2023 wurden sieben von ihnen, sechs Kolumbianer und ein Ecuadorianer, nach ihrer Festnahme im Gefängnis ermordet. Außerdem weigerte sich die Nationalpolizei, bei der Untersuchung des Falls durch das Parlament zu kooperieren. Beide Umstände sorgten für Zweifel an der Fähigkeit und am Willen Ecuadors, den politischen Mord, der weltweit Schlagzeilen gemacht hatte, tatsächlich aufzuklären und für Gerechtigkeit zu sorgen.
Politische Drahtzieher?
Trotz der Verurteilungen von fünf Verantwortlichen ist unklar, ob es noch andere Drahtzieher hinter dem Lobos-Anführer Angulo gibt. Angulo deutete an, er sei nur ein Sündenbock. Villavicencios Familie und andere, die ihm nahe standen, glauben, dass der Befehl von höherer Stelle kam. Seine Witwe Verónica Sarauz vermutet, Politiker im Umfeld des linksgerichteten Ex-Präsidenten Rafael Correa, denen die Generalstaatsanwaltschaft Korruption und Verbindungen zur organisierten Kriminalität vorwirft, hätten die Tötung ihres Mannes angeordnet. Das deckt sich mit der Aussage eines geschützten Zeugen im Prozess. Christian Zurita, ebenfalls Journalist und ein Freund Villavicencios, der ihn nach dem Mord als Kandidat abgelöst hatte, beschuldigte namentlich Pablo Muentes, einen ehemaligen Abgeordneten der rechten Christlich-Sozialen Partei Ecuadors.
2023 hatte der verstorbene Villavicencio Muentes zusammen mit vier anderen Abgeordneten wegen angeblicher Drohungen gegen sein Leben angezeigt. Er sei von anderen Abgeordneten gewarnt worden, dass Muentes seinen Tod im Stil eines Auftragsmordes plane. Muentes nannte diese Anschuldigung eine Verleumdung. Im Zusammenhang mit dem Mord an Villavicencio wurde gegen Muentes keine Strafanzeige erstattet. Aber im März 2024 wurde er im Rahmen der Aktion „Purga“ (zu Deutsch „Säuberung“) wegen Vorwürfen der Korruption, Manipulation der Justiz und Verbindungen zum organisierten Verbrechen festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Auch wegen Korruption waren Ex-Präsident Rafael Correa, der von 2007 bis 2017 im Amt war, und sein Vizepräsidenten Jorge Glas bereits verurteilt worden. Während Glas in Ecuador ein paar Jahre seiner Strafe absaß und auf einen neuen Prozess wartet, lebt Correa seit dem Ende seiner Amtszeit in Belgien im Exil.
Manipulieren, was das Zeug hält
Als Präsidentschaftskandidat hatte Villavicencio eine harte Haltung gegenüber Korruption und Kriminalität angekündigt, die er schon als Investigativjournalist gezeigt hatte. Es gibt daher einige Politiker, Funktionäre, Richter und Angehörige der Sicherheitskräfte, die ein Interesse daran gehabt hätten, seine Wahl zu verhindern. Über den damaligen Präsidenten Correa hatte Villavicencio zum Beispiel enthüllt, dass dieser dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange 2012 nur deshalb Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London gewährt hatte, um zu verhindern, dass WikiLeaks kompromittierende Dokumente über Correas Regierung veröffentlicht. Eine weitere diplomatische Krise bahnte sich übrigens im Dezember 2023 an, als Ex-Vizepräsident Jorge Glas sich in die mexikanische Botschaft in Quito flüchtete, weil er, wie er behauptete, in Ecuador politisch verfolgt werde.
Am 5. April 2024 gewährte ihm der linksgerichtete, mexikanische Präsident López Obrador politisches Asyl, doch am selben Abend drang die ecuadorianische Polizei gewaltsam in die Botschaft ein und verhaftete Glas. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sah darin einen Verstoß gegen das Wiener Übereinkommen, in dem die Staaten darauf verzichten, ihre Hoheitsrechte auf dem Gelände von Botschaften auszuüben. Auf der anderen Seite gilt bei Straftaten dort das Gesetz des Gastgeberlandes, und auch die OAS betonte in ihrer Resolution, dass Glas bereits zweimal wegen Straftaten verurteilt worden war. Wer hier mehr gegen geltendes Recht verstößt, ist genauso schwer zu sagen, wie wer im Fall Villavicencio mehr lügt und manipuliert, um seine Interessen zu schützen.
Netz des Verbrechens
Laut Zeugenaussagen haben Correa und Glas versucht, ihr Korruptionsnetz dazu zu nutzen, ihre eigene Verurteilung aufzuheben und die Generalstaatsanwältin Diana Salazar zu entlassen. Dieses Netz soll während Correas Amtszeit über den damaligen Leiter des ecuadorianischen Rechnungshofs, Carlos Ramón Pólit Faggioni, auch über Spanien und die Niederlande Bestechungsgelder in Millionenhöhe gezahlt und erhalten haben. Im Dezember 2020 war Pólit in Ecuador verurteilt worden, weil er mehr als zehn Millionen US-Dollar Schmiergeld von der brasilianischen Firma Odebrecht erhalten hatte. Das Unternehmen hatte eine Reihe von überteuerten Bauprojekten in Ecuador durchgeführt. Pólit, der auch die US-Staatsbürgerschaft hat, setzte sich nach Miami ab und steht dort derzeit wegen Geldwäsche vor Gericht.
Auch die wichtigsten ecuadorianischen Drogenbanden sind international vernetzt. Wie gesehen arbeiten sie mit Auftragskillern aus Kolumbien zusammen. Außerdem sind sie mit den großen mexikanischen Verbrecherorganisationen verbunden: „Los Lobos“ und „Los Tiguerones“ mit dem Jalisco-Kartell – Neue Generation (CJNG) und „Los Choneros“ mit dem Sinaloa-Kartell (CDS). Trotz vieler unbeantworteter Fragen hatte der Mord an Villavicencio eine deutliche und unmittelbare Auswirkung auf die Vorgehensweise Ecuadors bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Andere Präsidentschaftskandidaten, vor allem der spätere Sieger Daniel Noboa, schwenkten von einer moderaten Strategie mit Sozialprogrammen zu einer pro-militaristischen Haltung um. Nach seinem Amtsantritt im November 2023 stufte Noboa 22 Gruppen des organisierten Verbrechens als „terroristische Organisationen“ ein und erklärte ihnen den Krieg.